Das CMS-Experiment am CERN misst einen Schlüsselparameter des Standardmodells der Teilchenphysik

Teilchenbeschleuniger LHC bringt neue Erkenntnisse für ein altes Rätsel: wie sich die physikalischen Kräfte vermischen, wenn die Symmetrie in unserem Universum gebrochen wird

Der CMS-Detektor am Forschungszentrum CERN während Wartungsarbeiten. Bild: CERN

Auf der Fachtagung "Rencontres de Moriond" haben Wissenschaftler:innen der CMS-Kollaboration eine Messung des effektiven leptonischen elektroschwachen Mischungswinkels vorgestellt. Das Ergebnis ist die präziseste Messung, die jemals an einem Hadronenbeschleuniger durchgeführt wurde, und stimmt gut mit den Vorhersagen des Standardmodells der Teilchenphysik überein. Forschende von DESY waren maßgeblich an der Erarbeitung dieses Ergebnisses beteiligt. Die neue Messung verdeutlicht, wie sich die physikalischen Kräfte vermischen, wenn die Symmetrie in unserem Universum gebrochen wird.

Das Standardmodell der Teilchenphysik ist die genaueste Beschreibung der bisher bekannten Teilchen und ihrer Wechselwirkungen. Präzise Messungen seiner Parameter in Verbindung mit genauen theoretischen Berechnungen ergeben eine beeindruckende Prognosefähigkeit, die es ermöglicht, neue Phänomene zu erkennen, noch bevor sie direkt beobachtet werden. Auf diese Weise konnte das Standardmodell die Massen der W- und Z-Bosonen (Entdeckung 1983 am CERN), des Top-Quarks (Entdeckung 1995 am Fermilab) und zuletzt des Higgs-Teilchens (Entdeckung 2012 am CERN) erfolgreich eingrenzen. Nach der Entdeckung dieser Teilchen wurden die Vorhersagen zu Konsistenzprüfungen für das Standardmodell und ermöglichten es den Physikerinnen und Physikern, die Grenzen der Gültigkeit der Theorie auszuloten. Gleichzeitig sind Präzisionsmessungen der Eigenschaften dieser Teilchen ein leistungsfähiges Instrument für die Suche nach neuen Phänomenen, die im Standardmodell nicht vorkommen, da sich letztere als Diskrepanzen zwischen verschiedenen gemessenen und berechneten Werten zeigen würden.

Der elektroschwache Mischungswinkel ist ein Schlüsselelement dieser Konsistenzprüfungen. Er ist ein grundlegender Parameter des Standardmodells, der bestimmt, wie die vereinheitlichte elektroschwache Wechselwirkung durch einen als elektroschwache Symmetriebrechung bekannten Prozess die elektromagnetische und schwache Wechselwirkung hervorgebracht hat. Die elektroschwache Wechselwirkung ist ein Prozess, bei dem das Universum eine willkürliche Zuordnung zu bestimmten Werten vornimmt. Es ist, als würde man eine Nadel auf die Spitze stellen und dann sehen, in welche Richtung sie zeigt, wenn sie herunterfällt. In diesem Fall ist die fallende Nadel im Wesentlichen das Higgs-Feld, und wenn es herunterfällt, ändert es die Regeln der Teilchenphysik grundlegend. Die Teilchen, die vor dem Herabfallen des Higgs-Feldes existierten, werden miteinander vermischt, was durch einen Winkel visualisiert werden kann: den Mischungswinkel. Die Messung dieses Winkels ist entscheidend, um unser Verständnis der Teilchenphysik zu überprüfen, denn er bietet eine gute experimentelle Gegenprobe des Modells.

"Mit dieser Messung haben wir versucht, das volle Potenzial des CMS-Detektors auszuschöpfen", sagt DESY-Fellow Evan Ranken, der an der Messung beteiligt war. "Einige der Teilchen, die für die Messung des elektroschwachen Mischungswinkels entscheidend sind, bewegen sich recht nahe am Strahl der kollidierenden Protonen. Es gibt Teile des Detektors, die sich in der Nähe dieses Teilchenstrahls befinden, und obwohl diese Komponenten wichtige Informationen liefern, werden sie normalerweise nicht für Präzisionsmessungen von Elektronen verwendet. Aber mit einigen kreativen Werkzeugen ist es uns gelungen, genau das zu tun."

Für die Extraktion des elektroschwachen Mischungswinkels am LHC müssen die Physiker:innen die Bewegung von Quarks und Gluonen im Inneren der kollidierenden Protonen modellieren. Um zu entschlüsseln, was bei der Kollision der Protonen passiert, ist ein großer Aufwand erforderlich. Es gibt mehrere phänomenologische Ansätze, die darauf abzielen, dieses Verhalten empirisch zu modellieren, und von denen jeder leicht unterschiedliche Vorhersagen liefern kann. Alle diese Modelle stützen sich in hohem Maße auf Daten, die bei DESY während des Betriebs des HERA-Colliders von 1992 bis 2007 gesammelt wurden. Das DESY-CMS-Team unter der Leitung von Katerina Lipka hat mit seinem Fachwissen über modernste Simulationswerkzeuge dazu beigetragen, die Genauigkeit der Messung des elektroschwachen Mischungswinkels bei CMS zu maximieren, und damit eine Schlüsselrolle bei der Interpretation der Daten für das Endergebnis gespielt. Die Arbeit des DESY-Teams war wichtig, um sicherzustellen, dass bei der Messung die hochwertigsten verfügbaren Simulationen verwendet wurden, und um die Grenzen und den Kontext der zugrunde liegenden Modelle im weiteren Rahmen der Teilchenphysik zu verstehen. "Diese Arbeit stellt nicht nur sicher, dass CMS sich auf sein Ergebnis verlassen kann, sondern ermöglicht auch den Vergleich verschiedener Modellierungsansätze und setzt damit einen produktiven Kreislauf der Rückkopplung zwischen Theorie und Experiment fort", sagt DESY-Forscher Simone Amoroso.

An der Modellierung des physikalischen Ergebnisses sind mehrere physikalische Prozesse mit verschiedenen Simulationswerkzeugen und unterschiedlichen Kräften beteiligt. "Dabei beschäftigt man sich wirklich mit den tiefsten, grundlegendsten Gesetzen der Teilchenphysik, die sich alle im subatomaren Bereich der Quantenphysik abspielen. Man hat das Gefühl, Augenzeuge der grundlegenden Naturgesetze zu sein", sagt DESY-Mitarbeiter Federico Vazzoler, der die Interpretationsmodelle erstellt hat.

Die beiden bisher genauesten Messungen des schwachen Mischungswinkels waren mit Experimenten am LEP-Collider am CERN und mit dem SLD-Experiment am Stanford Linear Accelerator Center (SLAC) durchgeführt worden. Die Werte stimmen nicht miteinander überein, was Physiker:innen über ein Jahrzehnt lang vor ein Rätsel gestellt hatte. Das neue Ergebnis steht in guter Übereinstimmung mit der Vorhersage des Standardmodells und ist ein Schritt zur Lösung der Diskrepanz zwischen den LEP- und SLD-Messungen.

"Dieses Ergebnis bestätigt, dass Präzisionsphysik an Hadronen-Beschleunigern möglich ist", sagt Patricia McBride, die Sprecherin des CMS-Experiments. "Die Analyse musste unter den schwierigen Bedingungen des zweiten LHC-Laufs durchgeführt werden, mit durchschnittlich 35 gleichzeitigen Proton-Proton-Kollisionen pro Strahlübergang. Dies ebnet den Weg für die Präzisionsphysik am High-Luminosity-LHC, wo fünfmal mehr Protonenpaare gleichzeitig kollidieren werden."

Präzisionstests der Parameter des Standardmodells sind der Verdienst von Elektron-Positron-Collidern wie dem LEP am CERN, der bis zum Jahr 2000 in dem Tunnel betrieben wurde, in dem sich jetzt der LHC befindet. Elektron-Positron-Kollisionen bieten eine saubere Umgebung für solche hochpräzisen Messungen. Proton-Proton-Kollisionen im LHC sind für diese Art von Untersuchungen wesentlich schwieriger, vor allem wegen des überwältigenden Untergrunds durch die Prozesse der starken Wechselwirkung und der Tatsache, dass Protonen keine Elementarteilchen sind. Daher schien es eine unmögliche Aufgabe zu sein, eine ähnliche Präzision wie bei Elektron-Positron-Kollisionen zu erreichen, doch nun ist es gelungen.

Die von CMS vorgestellte Messung verwendet eine Stichprobe von Proton-Proton-Kollisionen, die 2016-2018 bei einer Schwerpunktsenergie von 13 TeV gesammelt wurden und etwa 11 000 Millionen Millionen Kollisionen entsprechen. Der Mischungswinkel wird durch eine Analyse der Winkelverteilungen in Kollisionen ermittelt, bei denen Paare von Elektronen oder Myonen erzeugt werden. Dies ist die präziseste Messung, die bisher an einem Hadronenbeschleuniger durchgeführt wurde. Sie ist vergleichbar mit der Präzision von Elektron-Positron-Beschleunigern und verbessert frühere Messungen von ATLAS, CMS und LHCb auf der Grundlage von LHC-Daten aus dem Jahr 2012.

Mehr Info:

- CMS Physics Analysis Summary

- CMS Physics Briefing