Eine Gruppe von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern von DESY und der Universität Hamburg in Zusammenarbeit mit der University of Rochester in den USA könnte in den Daten des CMS-Detektors, einem der beiden riesigen Vielzweckdetektoren am Large Hadron Collider am CERN in Genf, auf etwas Neues gestoßen sein. Sie beschäftigen sich mit LHC-Kollisionen, bei denen Paare von Top-Quarks entstehen, und haben in den Daten einen interessanten Effekt entdeckt, der auf etwas hinweisen könnte, das noch nie zuvor gesehen wurde.
Das Top-Quark ist das schwerste Elementarteilchen im Standardmodell der Teilchenphysik. Weil es so schwer ist und so schnell zerfällt, ist es in der Welt der Teilchenphysik ziemlich einzigartig, denn es ist das einzige Quark, das einzeln beobachtet werden kann - alle anderen Quarks sind immer nur in gebundenen Zuständen zu sehen, d. h. sie bilden neue Teilchen mit anderen Quarks. Das Top-Quark steht auch in enger Verbindung mit dem Higgs-Teilchen, das allen Elementarteilchen Masse verleiht. Daher spielt das Top-Quark eine Schlüsselrolle bei der Erforschung des Higgs-Teilchens selbst und bei der Klärung der Frage, ob das Higgs-Feld komplexer ist, als wir derzeit annehmen - vor allem, wenn es darum geht, mögliche schwerere Versionen des Higgs-Teilchen zu finden.
In ihrer Analyse verglich das Team um Christian Schwanenberger, DESY-Wissenschaftler und Professor an der Universität Hamburg, und Alexander Grohsjean, Wissenschaftler an der Universität Hamburg, die CMS-Proton-Proton-Kollisionen mit den neuesten theoretischen Vorhersagen. „Wir beobachteten einen unerwarteten Überschuss bei der Produktion von Paaren aus Top-Quarks und ihren Antiquarks nahe der Massenschwelle. Hier reicht die verfügbare Energie gerade aus, um Top-Quark und Top-Antiquark zu erzeugen“, erklärt Grohsjean. Der Effekt wurde zum ersten Mal in den Daten aus dem Jahr 2016 gesehen und hat sich nun nach der Analyse der Daten aus den Jahren 2017 und 2018 weiter verstärkt. „Bildet das Top-Quark einen gebundenen Zustand mit seinem eigenen Antiteilchen, bevor es zerfällt? Wir sind uns noch nicht sicher, was wir da sehen, aber wir sind ziemlich sicher, dass es sich nicht nur um eine statistische Fluktuation handelt“, sagt Schwanenberger.
Die Forschung am LHC hat einen eingebauten Kontrollmechanismus: Es gibt zwei große Vielzweckdetektoren, CMS und ATLAS. Im Prinzip kann nur dann von Entdeckungen die Rede sein, wenn beide Detektoren das Gleiche beobachten. Das Team um die DESY-Wissenschaftlerin Katharina Behr von der ATLAS-Kollaboration kann jedoch keinen signifikanten Effekt in ihren Daten feststellen. Ihre Analyse ist für einen etwas anderen Bereich von Top-Quark-Energien optimiert und kann den Überschuss, den ihre CMS-Kollegen sehen, bisher nicht bestätigen. „Die Diskussionen zwischen den beiden Teams, in denen unsere Ergebnisse, unsere Hypothesen und die von uns verwendeten theoretischen Modelle verglichen werden, werden äußerst spannend sein und haben gerade erst begonnen“, sagt Laurids Jeppe, Doktorand bei DESY im Rahmen des Exzellenzclusters „Quantum Universe“.
Der Schlüssel zu dieser Analyse ist eine Eigenschaft der Teilchen, die als„Spin“ bezeichnet wird und als eine Form des Drehimpulses betrachtet werden kann. Der Spin kann die Werte 0, ½ oder 1 annehmen. Das 2012 entdeckte Higgs-Teilchen hat einen Spin von 0, was es zu einem Skalarteilchen macht. Schwerere Higgs-ähnliche Teilchen, die von einigen Theorien vorhergesagt werden, könnten auch in Paare von Top-Quarks zerfallen und entweder skalar (wie das Higgs) oder pseudoskalar sein, eine andere Art von Teilchen mit anderen Eigenschaften.
Bei dieser Analyse ergab die Messung spinempfindlicher Messgrößen, dass der beobachtete Überschuss in den Daten eher mit der Pseudoskalar-Hypothese als mit der Skalar-Hypothese übereinstimmt.
Dies wirft entscheidende Fragen auf: Könnte dies ein Beweis für ein völlig neues Elementarteilchen sein, oder könnte es sich um einen gebundenen Zustand eines Top-Quarks und eines Antiquarks handeln - von denen man annimmt, dass sie sich beide wie Pseudoskalare verhalten? Könnte es sich um einen kniffligen Effekt handeln, der auf eine unvollkommene Modellierung des Hintergrunds zurückzuführen ist, die sehr schwierige Berechnungen erfordert?Oder handelt es sich vielleicht um etwas Unerwartetes, das unser derzeitiges Verständnis der Teilchenphysik in Frage stellt?
Lange Zeit wurde angenommen, dass das Top-Quark im Gegensatz zu den leichteren Quarks zu kurzlebig ist, um gebundene Zustände zu bilden. Diese Möglichkeit ist jedoch nicht völlig ausgeschlossen, insbesondere im Schwellenbereich, in dem sich Top-Quarks und Antiquarks sehr langsam relativ zueinander bewegen.
„Um die Eigenschaften dieses Systems zuverlässig zu modellieren, sind weitere theoretische Arbeiten erforderlich“, sagt Afiq Anuar, Postdoc bei DESY. „Unser nächster Schritt wird sein, den Ursprung dieses faszinierenden neuen Effekts zu erforschen. Es kommen aufregende Zeiten auf uns zu!“
Wer mehr wissen möchte: hier das entsprechende Paper der CMS-Kollaboration