Wissenschaftlern der ATLAS- und CMS-Forschungsgruppen am Teilchenbeschleuniger Large Hadron Collider (LHC) am CERN in Genf ist es erstmals gelungen, die gleichzeitige Erzeugung eines Top-Quarks, des schwersten Elementarteilchens, und eines Higgs-Teilchens unmittelbar zu beobachten. DESY-Forscherinnen und -Forscher spielten bei der Datenanalyse beider experimenteller Kooperationen eine wichtige Rolle. Diese Beobachtung bedeutet für die Teilchenphysik einen gewaltigen Schritt zu einem besseren Verständnis des Mechanismus, der Elementarteilchen Masse verleiht: des Higgs-Mechanismus. Die Wissenschaftler stellten ihre Ergebnisse am Montag während der Eröffnung des Wissenschaftskongresses LHCP vor, einer der wichtigsten Tagungen auf diesem Gebiet, die diese Woche im italienischen Bologna stattfindet.
Das Higgs-Teilchen wurde 2012 am LHC entdeckt. Der Nachweis selbst ist aber lediglich der erste Schritt auf dem Weg zum Verständnis sämtlicher Eigenschaften des neu entdeckten Teilchens. Wissenschaftler wollen nun herausfinden, wie das Higgs-Teilchen mit anderen Teilchen interagiert, um das Rätsel zu lösen, wie genau es ihnen Masse verleiht. Das ist beim Top-Quark, dem massereichsten Elementarteilchen, das bislang beobachtet wurde, besonders schwierig, da es nur selten zusammen mit einem Higgs-Teilchen entsteht – hundert Mal seltener als andere Teilchen. Außerdem lässt sich seine Wechselwirkung mit dem Higgs-Teilchen nur indirekt anhand von anderen Teilchen beobachten und nachweisen, die bei seinem Zerfall entstehen. Die Wechselwirkung des Top-Quarks mit dem Higgs-Teilchen ist allerdings größer als mit jedem anderen Teilchen, gerade weil es so schwer ist.
Da das Top-Quark zu schwer ist, kann das Higgs nicht direkt in ein Top-Anti-Top-Paar zerfallen. Statt dessen sucht man nach Ereignissen, in denen ein Top-Quark-Paar zusammen mit einem Higgs-Teilchen erzeugt wird. Die Kollision von zwei Protonen, die im LHC aufeinander geschossen werden, kann zwei Top-Quarks, eines davon ein Antiquark, sowie ein Higgs-Teilchen erzeugen, die alle weiter zu anderen Teilchen zerfallen. Das Top-Quark zerfällt zu einem W-Boson und einem Bottom-Quark, während das Higgs-Teilchen beispielsweise in zwei Photonen, vier Leptonen, ein Bottom-Quark und ein Anti-Bottom-Quark oder Paare von W- oder Z-Bosonen oder Tau-Leptonen zerfällt. Die neuen Ergebnisse, die in weltweiter Zusammenarbeit entstanden sind, wurden auf Grundlage der Daten gewonnen, die der LHC bisher geliefert hat. Die CMS-Forscher nutzten hierbei Daten aus den Jahren 2011 bis 2016, und die Resultate wurden heute im Fachmagazin „Physical Review Letters“ veröffentlicht. Zusätzlich zu den zwischen 2011 und 2016 gewonnenen Daten nutzten die ATLAS-Forscher auch Daten aus dem Jahr 2017 für ihre Analyse des Zerfalls in zwei Photonen und vier Leptonen. Die ATLAS-Resultate sind beim Fachmagazin „Physics Letters B“ zur Veröffentlichung eingereicht worden.
Der Zerfall des Higgs-Teilchens in ein Bottom-Quark und ein Anti-Bottom-Quark kommt am häufigsten vor, lässt sich aber auch nur schwer von den vielen anderen Teilchen unterscheiden, die während einer Kollision im Detektor in Erscheinung treten. Gemeinsam mit anderen Instituten haben die beiden DESY-Wissenschaftlerinnen Maria Aldaya (CMS) und Judith Katzy (ATLAS) sich mit ihren jeweiligen Gruppen darauf konzentriert, Ereignisse aufzuspüren, bei denen in der letzten Stufe zwei Bottom-Quarks entstehen. „Die Beobachtung des Top-Quarks zusammen mit dem Higgs-Teilchen bestätigt diesen Entstehungspfad des neuen Bosons und gestattet es uns, die direkte Wechselwirkung zwischen dem Higgs-Teilchen und dem massereichsten Quark zu untersuchen. Sie ist ein wichtiger Meilenstein in der Verifizierung des Standardmodells der Teilchenphysik“, erläutert Maria Aldaya, die auch die Top-Quark-Gruppe bei CMS koordiniert.
„Um diese Beobachtung machen zu können, mussten die Forschungsgruppen die Resultate von verschiedenen Endzuständen des Higgs-Teilchenzerfalls miteinander kombinieren“, sagt DESY-Wissenschaftlerin Kerstin Tackmann, die bei ATLAS die Higgs-Arbeitsgruppe co-koordiniert. Wissenschaftler, zu denen auch Sarah Heim und Kerstin Tackmann und ihre Gruppen bei DESY gehören, haben andere Higgs-Zerfallsprozesse in Verbindung mit dem Top-Quark untersucht, darunter auch den Zerfall des Higgs-Teilchens in vier Leptonen oder zwei Photonen. Die beiden letztgenannten Prozesse kommen äußerst selten vor, wenn sie aber stattfinden, ist das entsprechende Signal besonders markant.
Die präzise Messung und die Kenntnis der Art und Weise, wie Top-Quarks und Higgs-Teilchen miteinander interagieren, ist deshalb von so entscheidender Bedeutung, weil jede Anomalie im Verhalten der Teilchen ein Hinweis auf etwas Neues und Unerwartetes sein könnte. Bisher wurde keine Abweichung vom sogenannten Standardmodell beobachtet, also von der zugrundeliegenden Theorie, welche die Eigenschaften und die Wechselwirkung zwischen den verschiedenen Teilchen erklärt. „Im Augenblick freuen wir uns einfach, diese Wechselwirkung zwischen dem Higgs-Teilen und dem Top-Quark beobachtet zu haben. Wir können uns diese nun genau anschauen und überprüfen, ob wir irgendetwas Unerwartetes sehen“, sagt Judith Katzy.
Zwei Helmholtz-Nachwuchsgruppen waren an den Studien beteiligt: „Die Suche nach Dunkler Materie und anderen neuen physikalischen Phänomenen mithilfe des Higgs-Teilchens am ATLAS-Experiment“, die von Sarah Heim geleitet wird, und „Ultimative Präzisionsmessungen und die Suche nach neuen physikalischen Phänomenen anhand des Top-Quarks am CMS-Experiment am LHC“, die von Maria Aldaya geleitet wird.
Originalarbeiten:
Observation of ttH production; CMS Collaboration; „Physical Review Letters“, 2018; DOI: 10.1103/PhysRevLett.120.231801 https://doi.org/10.1103/PhysRevLett.120.231801
Observation of Higgs boson production in association with a top quark pair at the LHC with the ATLAS detector; ATLAS Collaboration; eingereicht bei „Physics Letters B“; Preprint: https://arxiv.org/abs/1806.00425