Spieglein, Spieglein an der Wand ...

CMS-Wissenschaftler präsentieren neue Higgs-Daten auf ICHEP-Konferenz

Schematische Illustration des Higgs-Teilchens im CP-Spiegel: Während sich Farbe und Richtung der Rakete, in der sich das Higgs bewegt, im Spiegelbild ändern (entsprechend dem Wechsel von Ladung und Richtung), sieht das Higgs-Teilchen selbst gleich aus (entsprechend einem CP-invarianten Teilchen) (Bild: DESY/Designdoppel).

Das CMS-Experiment am LHC hat eine weitere wichtige Eigenschaft des Higgs-Teilchens gemessen, nämlich eine besondere Art von Spiegelungsverhalten bei seiner Kopplung an Tau-Teilchen. Die Kollaboration präsentierte die Ergebnisse auf der gerade laufenden wichtigsten Teilchenphysik-Konferenz ICHEP2020, die in diesem Jahr mit fast 3000 registrierten Teilnehmern weltweit online stattfindet. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler von DESY waren maßgeblich beteiligt an dieser Analyse, die die Annahme weiter stützt, dass das Higgs-Teilchen mit der Beschreibung durch das Standardmodell der Teilchenphysik übereinstimmt.

2012 entdeckten die Kollaborationen ATLAS und CMS in Proton-Proton-Kollisionen am CERN-LHC ein neues Teilchen mit einer Masse von 125 Giga-Elektronenvolt (GeV), das ist etwa die 125-fache Masse des Protons. Die Entdeckung war ein Meilenstein in der Teilchenphysik: dieses Teilchen besitzt alle Eigenschaften des vor mehr als 50 Jahren vorhergesagten Higgs-Bosons, mit dem man die Masse von Elementarteilchen erklären kann. Trotzdem bleiben viele Rätsel im Universum bleiben ungelöst, beispielsweise die riesigen Vorkommen von Dunkler Materie, die Tatsache, dass die Masse von Neutrinos nicht im Rahmen der Theorie von Peter Higgs und Kollegen erklärt werden kann, und viele weitere. Die Lösung für solche Probleme könnte die Existenz bisher nicht nachgewiesener Teilchen bieten. Eine Möglichkeit, nach Hinweisen und Spuren neuer Teilchen zu suchen, ist die Untersuchung von Abweichungen der Eigenschaften des Higgs-Teilchens von den durch das Standardmodell der Teilchenphysik erwarteten Werten. Deshalb haben ATLAS- und CMS-Forscherinnen und -Forscher die Eigenschaften dieses Teilchens seit seiner Entdeckung eingehend untersucht. Eine Frage ist insbesondere, wie die Eigenschaften des Higgs-Teilchens in einem speziellen Spiegel aussehen würden, der gleichzeitig links-rechts, oben-unten und die Ladung umkehrt. Eine solche Operation wird mathematisch als CP-Konjugation bezeichnet.

„Jede Abweichung des Bildes des Higgs-Bosons in einem solchen CP-Spiegel würde eindeutig auf das Vorhandensein von Physik jenseits des Standardmodells hinweisen“, sagt DESY-Forscher Alexei Raspereza, einer der Initiatoren dieser Messung. „Wenn das Higgs-Boson, oder genauer gesagt die Kopplung des Higgs-Bosons an andere Teilchen, im CP-Spiegel gleich aussieht, dann ist die Kopplung CP-invariant (skalar). Wenn hingegen alle Koordinaten vertauscht sind, so wie links und rechts in einem normalen Spiegel, nennt man die Kopplung CP-ungerade (pseudoskalar). Diese beiden Zustände der Kopplung können sich auch mischen.“

Die CMS-Kollaboration hat die CP-Eigenschaften des Higgs-Teilchens zum ersten Mal in Zerfällen des Higgs in Tau-Leptonen untersucht. Die Analyse, die Kollisionsdaten von 2016 bis 2018 verwendete, wurde unter starker Beteiligung der DESY-CMS-Gruppe durchgeführt. Ein bei einer Kollision erzeugtes Higgs-Boson zerfällt in 6% der Fälle in ein Tau-Leptonen-Paar, das beispielsweise in ein oder drei geladene Teilchen und Neutrinos zerfällt. „Durch Messung des Winkels zwischen den Ebenen, die die sichtbaren Zerfallsobjekte enthalten, konnte CMS zum ersten Mal den Wert der CP-Mischung in der Kopplung Higgs-zu-Tau messen“, sagt DESY-Wissenschaftler Merijn van de Klundert, der die internationalen Analysegruppen koordinierte und die Dokumentation verfasste.

Die Tatsache, dass beim Tau-Leptonen-Zerfall Neutrinos beteiligt sind, machte die Analyse jedoch aufwändig. Außerdem werden Higgs-Bosonen bei Protonenkollisionen sehr selten erzeugt, und viele Prozesse, die deutlich häufiger auftreten, tragen zu einem großen Untergrund im Detektor bei. Um die Signale vom Untergrund zu unterscheiden und die Zerfälle zu rekonstruieren, setzten die Studenten Andrea Cardini und Oleg Filatov zusammen mit Forscherin Mareike Meyer, alle von DESY, maschinelle Lernalgorithmen ein.

Nach Anwendung aller Techniken auf die in drei Jahren gesammelten Kollisionsdaten des LHC-Laufs 2 konnte die Messung der Verteilung des Winkels zwischen den Tau-Zerfallsebenen mit Vorhersagen des CP-Verhaltens verglichen werden. Die Analyse zeigt, dass die Daten eindeutig für die Hypothese sprechen, dass das Higgs-Teilchen CP-invariant ist, wie es vom Standardmodell vorhergesagt wird. Die Hypothese, dass das Higgs-Teilchen ein Pseudoskalar ist, wurde mit einer Sicherheit von 3,2 Standardabweichungen bzw. einer Wahrscheinlichkeit von 99,7% ausgeschlossen.

Die Unsicherheit bei dieser ersten CP-Messung der Higgs-Tau-Kopplung ist weitgehend statistischer Natur. Das heißt, dass mit der Sammlung weiterer Kollisionsdaten während des nächsten LHC-Laufs 3 sowie während der LHC-HiLumi-Phase, die 2027 beginnen wird, die Reflexion des Higgs-Bosons im CP-Spiegel deutlicher und deutlicher sichtbar wird.